Flüchtlingssituation in Schortens - ein Kommentar

Mit gut 20.000 Einwohnern trägt Schortens die Last von 350 Flüchtlingen. Ist das zu viel und kann so eine kleine Stadt diese große Aufgabe bewältigen?

Flüchtlingssituation in Schortens

Schortens: Die mit gut 20.000 Einwohnern nach Varel zweitgrößte Stadt im Landkreis Friesland trägt die Last von 350 Flüchtlingen. Ist das zu viel und kann so eine kleine Stadt diese große Aufgabe bewältigen? Gisela Sandstede, Vorsitzende der Integrationslotsengemeinschaft in Schortens, sagt: „Ja, Integration kann gelingen – und in Schortens sowieso!“
Die Welle an Flüchtlingen scheint sich zu legen, die Krise fast überwunden zu sein. „Krise“ – ein Wort, das die Integrationslotsin nicht in Verbindung mit Flüchtlingen bringen möchte. Die frühere Lehrerin für Politik hat in ihrer Ausbildung zur Integrationslotsin viel dazugelernt, zum Beispiel, dass auch sie geprägt war von Vorurteilen. Daher ist sie umso glücklicher darüber, dass Schortens in diesem Thema so aufgeschlossen ist. Die Migranten freuen sich, „an die Hand genommen zu werden“, so Sandstede. Dies scheint auch nötig zu sein, da das Emigrieren in ein fremdes Land starke Umbrüche mit sich bringt. Diese Umbrüche sind schon bei den alltäglichsten Arbeiten, wie zum Beispiel dem Mülltrennen, erkennbar: Die aus den verschiedensten Ländern stammenden Hilfebedürftigen sind oft nicht mit dem Prinzip der Mülltrennung vertraut. „Zwei Drittel der in Schortens aufgenommenen Flüchtlinge sind Erwachsene, ein Drittel Kinder, die vom ersten Tag an, kein Wort Deutsch sprechend, die Schule besuchen müssen“, beobachtet die Integrationslotsin. Durch die rasche Einbindung ins System gelinge die Integration bei Kindern und Jugendlichen oft leichter, was zur Folge habe, dass Kinder die deutsche Sprache besser beherrschten als ihre Eltern. Oft müssten Kinder dann für die Familie übersetzen.
Durch unterschiedliche Rollenverteilungen in den Herkunftsländern bestünden häufig Diskrepanzen zwischen den Geschlechtern. So komme es vor, dass Männer ihren Gattinnen untersagen, Deutschkurse zu besuchen, wenn die Betreuung von Kindern während der Unterrichtszeit nicht gewährleistet ist. Denn anders als deutsche Männer, ist es für viele muslimische Männer nicht selbstverständlich, dass auch sie auf den Nachwuchs aufpassen. Für viele Mütter von kleinen Kindern scheint somit eine Integration unmöglich.
„Ignoranten, die nicht verstehen, dass diese Menschen hilfsbedürftig sind, werden das nie verstehen“, kritisiert Sandstede. Damit trifft sie nicht nur das Schortenser Herz, sondern auch das der ganzen Nation. Unverständlichkeit für Flüchtlinge ist gewissermaßen ein überregionales Thema, das genauso bewegt wie verärgert. Laut der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist Diskriminierung verboten, Menschen müssen gleichbehandelt werden, ohne dass wegen politischer Gesinnung oder Herkunft differenziert wird. Jeder, ob Christ, Muslim, Hinduist oder anderer Religionsangehöriger, verdient eine gleiche Behandlung, eine gleiche Wertschätzung – das sollte jeder einsehen!
Dass Sprache das A und O der Integration ist, sehen nicht nur zahlreiche Linguisten, sondern auch Gisela Sandstede so. „Wenn es mit der Sprache nicht klappt, klappt es auch sonst nicht“, meint sie. Die deutsche Sprache ist schwierig zu erlernen, das ist klar. Aber was passiert, wenn Flüchtlinge diesen Schritt in die Integration nicht schaffen? Haben sie dann keine Zukunft in der Region? Werden sie dann abgeschoben? Dass dieses Horrorszenario nicht eintreffen muss, erkennt man an einem etwa 30-jährigen Vater von fünf Kindern, der trotz fehlender Deutschkenntnisse eine Festanstellung in Wittmund erreichen konnte. Zwar ist die Sprachhürde sehr groß, doch Kommunikation funktioniert auch nonverbal, zum Beispiel mit Händen und Füßen. „Nicht jeder ist ein Sprachgenie“, gibt die Vorsitzende der Integrationslotsengemeinschaft zu, doch dass das kein Chancenkiller ist, beweist der Neu-Wittmunder.
Auch in Schortens gibt es Änderungsbedarf: Die Ämter müssten besser vernetzt werden und man müsse mehr kommunizieren. Die ehemalige Politiklehrerin liegt damit goldrichtig, da das Verhalten der Ämter taktloser nicht sein könnte: Die Kommunikation funktioniert nicht, worunter Migranten leiden müssen. Eine Krankenbescheinigung muss beim Rathaus abgeholt werden, bevor der Arztbesuch wirklich stattfinden kann. Diese Bescheinigung läuft nach spätestens einem Monat ab und muss in einem viel zu langen Warteprozess neu beantragt werden, der im schlimmsten Falle mehrere Monate andauern kann. Der Gang zum Arzt wird Flüchtlingen also selbst in tiefster Krankheit untersagt, bis sie eine entsprechende Genehmigung erhalten – unzumutbare, fast schon zynische Verhältnisse.
Gisela Sandstede schließt das Interview mit den Worten: „In der Flüchtlingspolitik läuft einiges falsch.“ Wer seine eigenen Vorurteile hinter sich lassen und helfen möchte, der kann zum Beispiel das Integrationscafé besuchen, das seine Türen jeden Dienstagnachmittag von 16 bis 18 Uhr im Schortenser Pferdestall öffnet. Wer weiteres Engagement zeigen möchte, kann sich auch ehrenamtlich als Integrationshelfer betätigen und hilfsbedürftige Menschen „an die Hand nehmen“. Sandstede appelliert an alle, sich nicht von einer anderen Religion oder Hautfarbe abschrecken zu lassen, sondern den Schritt zu wagen und seinen ausländischen Nachbarn vielleicht sogar zum Grillen einzuladen, um Vorurteile zu überwinden und das Gesicht hinter ihnen kennenzulernen.

 

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